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Wann dürfen wir uns wieder treffen? © Weegee / International Center of Photography

Wie lange noch? Die Frage treibt uns alle um, in diesen Tagen: Wann dürfen wir unsere Freunde wieder treffen? Unser Geschäft wieder öffnen? In die Schule gehen? In der vergangenen Woche haben mehrere wissenschaftliche Gruppen Ergebnisse geliefert, die helfen können, dieser Frage zu beantworten und angemessene Exit-Strategien zu entwickeln.

 

Ausbreitungsgeschwindigkeit: Einflüsse quantifizieren

Sie sprechen von RSCs (Restrictions on Social Contacts), NPIs (Non-Pharmaceutical Interventions), Kontaktbeschränkungen oder eben „Social Distancing“ – Epidemiologen, Soziologen, Ökonomen beschäftigen sich derzeit mit den Auswirkungen der Einschränkugen im sozialen Leben. Diese sollen helfen, die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 zu kontrollieren. Um ihre Wirkung zu messen, richten Epidemiologen verstärkt ihr Augenmerk auf die Reproduktionszahl (R) des Virus. Sie gibt an, wieviele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, und ist einer von mehreren Faktoren, die die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Epidemie bestimmen. Die Reproduktionszahl ist von erregerspezifischen Eigenschaften wie der Infektiosität oder der Inkubationszeit beim Patienten abhängig. Aber natürlich haben wir mit unserem eigenen Verhalten einen Einfluß auf diese Größe. Diesen Einfluss versuchen Forscher zu quantifizieren.

Nicht-Infizierte abzuschirmen verlangsamt die Ausbreitung deutlich

Dirk Brockmann und sein Mitarbeiter Benjamin Maier am Institut für Theoretische Biologie an der Humboldt-Universität Berlin haben Daten aus China ausgewertet. Diese Daten zeigen, dass auf die zuerst exponentielle Ausbreitungsphase der Epidemie eine Phase subexponentiellen Wachstums folgte. Exponentielle Ausbreitung entsteht, wenn jeder Infizierte mehr als einen Menschen ansteckt, wenn also R > 1 ist. Das ist zu erwarten, wenn einer Infektionswelle nichts entgegengesetzt wird. Subexponentiellen Wachstum heißt dagegen, dass jeder Infizierter einen oder weniger als einen anderen ansteckt, dass also R ≤ 1. 
Brockmann und Maier liefern mathematische Formeln, mit denen sie zeigen, dass der beobachtete Rückgang der Ausbreitungsgeschwindigkeit tatsächlich auf die eingeführten Restriktionen und das veränderte Verhalten der Menschen zurückzuführen sind. Sie benutzen dafür das klassische SIR-Modell aus der mathematischen Epidemiologie, das die Bevölkerung in Susceptible, Infekted und Removed Individuen aufteilt. Susceptible, also grundsätzlich ansteckbar sind wir alle für SARS-CoV-2, so lange es keine Impfung gibt. Removed, also der Menge der Ansteckbaren entnommen, ist jeder, der die Infektion hatte und eine Immunantwort entwickelt hat – oder an der Infektion verstorben ist. Brockmann und Maier erweiterten dieses Modell: ein Kompartiment für abgeschirmte ansteckbare Individuen spiegelt das Social Distancing (freiwillig oder verordnet) wieder, ein Kompartiment für abgeschirmte infizierte Individuen repräsentiert Quarantänemaßnahmen. 
Eine Hauptaussage ihrer Veröffentlichung in „Science“ ist, dass die rapide Verkleinerung der Menge ansteckbarer Individuen, also Abschirmung der noch nicht Infizierten, die Ausbreitung des Erregers deutlich und nachweisbar von exponentiell auf subexponentiell verlangsamt hat. 
Logisch, könnte man denken – warum der Aufwand? Weil mathematische Modelle übertragbar sind und wir mit ihrer Hilfe aus den Erfahrungen anderer Regionen lernen können, welche Maßnahmen im Kampf gegen SARS-CoV-2 wirksam sind.

Restriktionen kleinschritttig lösen, Effekte messen

Aus eben diesem Grund empfehlen Mainzer Wissenschaftler um den Ökonomen Klaus Wälde die Restriktionen in abgrenzbaren, reversiblen Schritten zu lockern. Die einzelnen Schritte sollten sich von Region zu Region unterscheiden und zunächst einige Wochen lang getestet werden, sodass erfolgreiche Maßnahmen auf andere Regionen übertragen werden können. Auch Wälde und seine Mitarbeiter haben das SIR-Model erweitert und auf die vorliegenden Infektionszahlen der Robert Koch-Instituts und der Johns Hopkins Universität angewandt. Sie ergänzen einzelne Parameter zur Infektionsdauer, dem Anteil aller Infizierten, die tatsächlich Symptome zeigen und dem Anteil Infizierter, die trotz fehlender (oder unerkannter Symptome) ansteckend sind. Mithilfe dieses Modells, das den bisherigen Verlauf der Infektion nachzeichnet, können sie den Effekt der bisher verordneten Einschränkungen im sozialen Leben quantifizieren. Und sie können Projektionen in die Zukunft vornehmen. Die bestehenden Einschränkungen deutschlandweit vollständig aufzuheben, würde ihrer Vorhersage nach zu einem schnellen Anstieg in der Zahl der Erkrankungen führen. Unser Gesundheitssystem wäre überlastet. 

Verschiedene Gruppen in Deutschland haben sich eingehend mit der Reproduktionszahl des neuen Coronavirus beschäftigt und Methoden entwickelt, diese von Tag zu Tag neu zu bestimmen. So erkennen sie Auswirkungen der Restriktionen im sozialen Leben auf die Ausbreitung des Erregers und können sie, vergleichbar dem Ansatz von Brockmann und Maier, quantifizieren.

Reproduktionszahl misst Wirksamkeit der Restriktionen

Seit Dienstag vergangener Woche stellen Thomas Hotz von der Technischen Universität Ilmenau und Alexander Krämer von der Universität Bielefeld ihre tagesaktuellen Schätzungen der Corona-Reproduktionszahl online. Ihre Schätzung basiert auf einem Vergleich der Anzahl der Neuinfektionen zu jedem Zeitpunkt mit der Anzahl der infektiösen Fälle zu dieser Zeit. Die zugrundeliegenden Daten stammen vom Robert Koch-Institut und der amerikanischen Johns-Hopkins Universität. Darüber hinaus, heißt es auf der Webseite, fließen „gewissen Annahmen über die Infektiosität des Virus“ in die Schätzung ein. Natürlich, so die Autoren, enthalte ihre Schätzung Unwägbarkeiten und sei mit der gebotenen Vorsicht zu genießen. Sie sehen beispielsweise regelmäßig sonntags weniger neu gemeldete Fälle als mittwochs. Dieses Phänomen erklären sie mit „Wochenendeffekten“, die sich stark auf das Meldedatum auswirken – und meinen wohl eher Praxisöffnungszeiten und behördliche Abläufe als Eigenschaften des Erregers oder der Patienten. 

Wissenschaftler um den Physiker Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig erweiterten das SIR Modell, das auch Brockmann benutzt, um SARS-CoV-2 —spezifische Aspekte, um die Ausbreitung des Erregers zu simulieren. Sie nutzten zwei verschiedene Strategien, die Parameter des Modells zu bestimmen. Einmal werteten sie die derzeitig verfügbare Literatur zur Epidemiologie von SARS-CoV-2 aus. Im zweiten Ansatz passten sie ihr Model auf die tatsächlichen Fallzahlen aus verschiedenen italienischen Regionen. Dass beide Ansätze zu vergleichbaren Ergebnissen führen, spricht für die Robustheit ihres komplexen Modells. Mit seiner Hilfe können auch die Braunschweiger Forscher tagesaktuelle Werte für die Reproduktionszahl errechnen, wobei das Modell jeweils die Berechnungen aus der Vergangenheit in die Berechnung der aktuellen Zahl mit einbezieht. Ihre Simulationen des Infektionsgeschehens weisen deutlich darauf hin, dass die Restriktionen im sozialen Leben dazu beigetragen haben, die Reproduktionszahl des Virus zu senken. Die unabhängig voneinander entwickelten Methoden von Hotz und Krämer und von Meyer-Hermann ergeben dabei aktuelle Werte für R in vergleichbarer Größe. Sie liegen derzeit nahe R = 1, also an einem entscheidenden Wendepunkt zwischen exponentieller Zunahme von Fällen und einer Verlangsamung der Ausbreitung bis hin zur Abnahme der Neuinfektionen. Die Braunschweiger argumentieren deshalb sogar, dass es sinnvoll sein könnte, die Maßnahmen für einen gewissen Zeitraum noch zu verstärken, um der Bedrohung durch SARS-CoV-2 ein schnelles Ende zu bereiten. Wie auch Brockmann betonen sie jedoch, dass einzelne Maßnahmen sich Veränderungen in der Ausbreitungsgeschwindigkeit bisher nicht konkret zuordnen ließen.

Natürliche Immunisierung keine Option

Die Mainzer Wissenschaftler rechnen für den Fall, dass die bisherigen Einschränkungen im sozialen Leben beibehalten werden mit insgesamt unter 200 000 Covid-19 Erkrankungen. Ein solches Szenario sei aber nicht wünschenswert, schreiben sie. Zu viele Menschen seien dann weiterhin ansteckbar für die Virusinfektion. Denn erst wer einmal infiziert war, hat eine Immunantwort aufgebaut. Auch die Braunschweiger Forscher um Michael Meyer-Hermann rechnen selbst nach einem Jahr von Infektionszahlen, bei denen unser Gesundheitssystem schon gut ausgelastet wäre, nur mit einer Immunisierung von einem Prozent der Bevölkerung. 
Allerdings halten sie es, im Gegensatz zu Wälde und seinen Mitarbeitern, für möglich, die Zahl der Neuinfektionen pro Woche mit SARS-CoV-2 durch strenge Kontakteinschränkungen in absehbarer Zeit auf nahe Null zu bringen. Gezielte Maßnahmen wie die Rückverfolgung von Kontakten Infizierter und Quarantäne würden dann reichen, um das Virus dann in Schach zu halten. Es wären keine wesentlichen Beeinträchtigungen des öffentlichen Lebens nötig.

Zusammengenommen liefern die hier beispielhaft beschriebenen wissenschaftlichen Arbeiten Werkzeuge dafür, Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Epidemie quantitativ zu bewerten und weitere Schritte auf Basis dieser Bewertung zu planen. Dabei können Gruppen wie Kommunen, Länder oder Nationen voneinander lernen, wenn sie ihre Daten zur Epidemie und ihren jeweiligen Gegenmaßnahmen untereinander transparent machen.

Links:

Die Arbeiten von Klaus Wälde und seinen Mitarbeitern sowie von Meyer-Hermann und seinen Mitarbeitern finden sich auf Preprint-Servern und stehen noch zur Begutachtung bzw. zur Revision aus.

Brockmann und Maier: https://science.sciencemag.org/content/early/2020/04/07/science.abb4557
Wälde (erste Publikation zum Modell) : https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.03.26.20044214v1.full.pdf
Wälde (Quantitative Vorhersage und Handlungsempfehlungen): https://www.macro.economics.uni-mainz.de/files/2020/04/Donsimoni_Glawion_Plachter_Weiser_Waelde_2020_Should_contact_bans_be_lifted_in_Germany_quantitative_prediction.pdf
Hotz und Krämer (tagesaktuelle Reproduktionszahl): https://stochastik-tu-ilmenau.github.io/COVID-19/germany
Meyer-Hermann (Artikel zur Entwicklung des Modells): https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.04.04.20053637v1
Meyer-Hermann (tagesaktuelle Reproduktionszahl): http://secir.theoretical-biology.de/