Wisssenschaftskommunikation: Wagen wir den Blick ins Kaleidoskop? Foto: U. Schneeweiß
In diesen Tagen ist die Expertise von Wissenschaftlern so gefragt wie nie. Darin liegt eine Chance für die Wissenschaftskommunikation, deren Aufgaben weit über das reine Übersetzen von Fachsprache hinaus gehen. Und für unsere Gesellschaft, die zu einer neuen Haltung finden kann.
„Sollten Wissenschaftler politischer werden?“ betitelte kürzlich das Magazin einer der großen deutschen Forschungsgemeinschaften einen Beitrag. Darin schilderten zwei Wissenschaftler ihre – in großen Teilen kongruenten – Blickwinkel auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Beide sprechen sich für einen offeneren Dialog der Wissenschaft mit gesellschaftlichen Akteuren und der Öffentlichkeit aus, im Idealfall unterstützt von Kommunikationsprofis.
Mich hat der Titel stutzig gemacht: politische Wissenschaftler? Ist das die richtige Frage?
Müssen wir nicht eher nach wissenschaftlicher Politik fragen? Danach, dass Politik aktuelle Thesen und Erkenntnisse aus der Grundlagen- und angewandten Forschung heranzieht, um Regeln und Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft zu definieren?
Nun sind Politiker in unserem System demokratisch gewählte Vertreter unserer Interessen. Ergo müssten wir selber, als Individuen und als Teil einer Gesellschaft, unserer Entscheidungen konsequenter auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen.
Nur gibt es kaum definierte Kanäle, auf denen diese Erkenntnisse ihren Weg zu uns und unseren gewählten Interessenvertretern finden. In bestimmten, als gesellschaftlich relevant erachteten Bereichen, beraten die Bundesforschungsinstitute die Politik. Und die wissenschaftlichen Dienste des Bundestages können für die Abgeordneten Informationen recherchieren. Das Gros der Grundlagenforschung findet jedoch von der Öffentlichkeit unbeobachtet statt.
Auf wissenschaftlichen Konferenzen sind nur selten Journalisten anzutreffen; das System der Veröffentlichungen in den Wissenschaften ist selbst für viele Insider komplex und undurchsichtig. Auch der begrüßenswerte Trend zu open science, dem freiem Zugang zu Veröffentlichungen, hilft dem Außenstehenden zunächst wenig; er sitzt vor einem wachsenden Berg mehr oder weniger kryptischer Daten. Die Glamour-Geschichten und Star-Portraits, die gerne unter dem Hashtag wisskomm daher kommen, sind unterhaltsam aber als Information wenig geeignet. Viele Tages- und Wochenzeitungen erwähnen Neuigkeiten aus der Wissenschaft nur am Rande. Selbst der NDR hat die Wissenssparte seines Nachrichtenprogramms NDRInfo erst kürzlich drastisch umgestaltet und große Teile in den Selbstabholerbereich für Hörer verschoben.
All das liegt vielleicht auch daran, wie aufwändig es sein kann, Ereignisse aus der Forschung allgemeinverständlich aufzubereiten. Gute Wissenschaftskommunikation beschränkt sich nicht darauf, die Funktion eines Enzyms oder eines Algorithmus zu erklären. Und es reicht nicht, zu berichten, sondern bedarf auch einer Einordnung des Berichteten in den Kontext der derzeitigen Forschung und ggf. den gesellschaftspolitischen Rahmen.
In der Wissenschaft geht es dabei, wie in der Politik oder an der Börse, nie um reine Zahlen und Fakten, sondern immer auch um Einschätzungen und Interpretationen. Die Wissenschaft lebt davon, dass diese durchaus unterschiedlich ausfallen. Nur selten gibt es eine einzige, klare Frage – noch seltener eine einfache, klare Antwort.
Daher darf man auch fragen, warum beispielsweise der NDR sich in der Corona-Krise zügig auf einen einzigen Corona-Experten einschoss, der binnen weniger Tage, wie er selber sagte, unfreiwillig zum Medienstar avancierte. Warum keinen zweiten, dritten Virologen? Warum nicht an derselben Stelle auch Epidemiologen, Soziologen, Psychologen, Ökonomen anhören? (Teilweise bekamen sie später an anderer Stelle ihren Platz.) Selbst der klügste aller Köpfe, auch der passionierteste aller Forscher kann unmöglich alle Fakten kennen, geschweige denn die vielseitigen Aspekte eines komplexen Phänomens wie einer Virus-Pandemie erklären. Drosten selber hat immer wieder betont, dass er kein Experte für „all things corona“ ist.
Brauchten wir aber diese eine, vertraute Stimme im Radio? Einen Ankerpunkt in Tagen, in denen plötzlich vieles so unsicher erschien? Richtete der Sender sich mit dieser Festlegung nach den Bedürfnissen seiner Hörer?
Oft heißt es, das Schwierige an der Wissenschaftskommunikation sei, dass den Menschen die Unsicherheit, die Unklarheit nicht zuzumuten sei, die gleichzeitig das Lebenselixier der Grundlagenforschung sind. Dass sie das Vage und Diffuse, das dem wissenschaftlichen Stand der Dinge stets innewohnt, nicht aushalten könnten. Insofern bietet die derzeitige Situation möglicherweise eine Chance für die Wissenschaftskommunikation. Wohl selten war so klar, dass die Politik nur auf Grundlage von Informationen aus der Forschung entscheiden und handeln kann. Und in diesem Fall wird sich in absehbarer Zeit weisen, ob Wissenschaftler und Politiker mit ihren Einschätzungen richtig lagen. Innerhalb weniger Wochen werden wir erkennen, ob die Maßnahmen des „social distancing“ eine Verlangsamung der Ausbreitung bewirken. Mit viel Glück und Unterstützung aus der Politik werden Forscher innerhalb von ein oder zwei Jahren einen Impfstoff entwickeln, mit dem Menschen sich vor der Infektion schützen können. Der Trainingszeitraum, in dem wir die Unsicherheit aushalten müssen, ist also überschaubar.
Vielleicht bekommen wir in der Krise die Chance, uns zu einer „wissenschaftlicheren Gesellschaft“ zu entwickeln. Zu souveränen Bürgern, die Einblicke in die Forschung einfordern.
Vielleicht werden wir lernen, unsere Gemeinschaft und Politik stärker auf Grundlage einer wissenschaftlichen Haltung zu gestalten. Ich wünsche mir dafür mutige Akteure in der Wissenschaftskommunikation, die sich trauen, das Vage und Zweideutige zu beschreiben, das die Forschung oft ausmacht. Die kritisch nachfragen und ein Meinungsbild zeichnen. Die ihrem Publikum den Blick durch das Kaleidoskop präsentieren, statt die Teilchen darin nach Farben zu sortieren.
Interessant hierzu: Christian Drosten im NDR Coronavirus-Update vom 30. März 2020: „Die Wissenschaft hat kein demokratisches Mandat, Entscheidungen zu treffen!“